Jockel Heenes hat 1979 in einem Gespräch mit Eike Barmeyer, das im Buch „Fragmente. Zeichen. Zeit….“ (Aachen 1979; WVZ Nr. 1977/028) abgedruckt wurde, als eines der Motive, sich mit Stelen zu beschäftigen (z.B.: WVZ Nr. 1977/042-044, 1978/002 und 1978/011), genannt: „Es waren immer Versuche, die menschliche Ohnmacht zu überwinden, mit der Angst zurecht zu kommen.“ Zwar ist in den frühen Arbeiten des Künstlers der Einfluss seines Lehrers an der Münchner Akademie der Bildenden Künste Karl Fred Dahmen zu spüren, dessen Art, objekthaft und materialbezogen zu arbeiten, bei Jockel Heenes auf fruchtbaren Boden fallen. Aber sein Satz über den Sinn der Stelen ist in erster Linie ein Hinweis auf die Haltung des Künstlers zum Leben und zur Welt und damit auch auf den inneren Antrieb, aus dem Jockel Heenes seine Arbeit in diesen frühen Jahren in großer Unabhängigkeit zu einer ganz eigenen künstlerischen Qualität entwickelte. Außerdem gab er mit seinem Bekenntnis auch Anhaltspunkte für seine Materialwahl: So verwendete er seit seinem Diplom 1976 an der Münchner Akademie der Bildenden Künste bis hin in die erste Hälfte der 80er Jahre in verschiedenen Arbeiten immer wieder den Werkstoff Blei, je nach Werk auf ganz unterschiedliche Weise. Mehrfach hat Jockel Heenes den Symbolwert dieses Materials im Hinblick auf Schutz, aber auch Zerstörung angesprochen.
Seine Wahl, mit Blei zu arbeiten, ist freilich nicht unabhängig von den geistesgeschichtlichen Strömungen und politischen Ereignisse jener Zeit zu sehen. Sowohl im persönlichen beruflichen Umfeld als junger Künstler wie in den allgemeinen politischen und künstlerischen Entwicklungen der späten 60er, der 70er und 80er Jahre, die er höchst sensibel miterlebte. Auf der documenta 4, 1967, und vor allem auf der legendären und hochpolitischen documenta 5 mit einem wie Joseph Beuys und seiner Idee von der „sozialen Plastik“ und dem „Büro für direkte Demokratie“.
Jockel Heenes war aber auch als Kunststudent Teil der zunehmenden Politisierung der Studierenden an der Münchner Akademie der Bildenden Künste. Heenes hatte sich 1967 zum Kunststudium eingeschrieben, mitten in einer Zeit des Umbruchs. Er nahm, wie die meisten anderen, auch an zahlreichen Aktionen und sogenannten „Notstands – Happenings“ der Jahre 1968 und 1969 teil (Einzelheiten bei: Birgit Joss in Branko Senjor „60er Jahre – Umbruchsjahre: Fotografien aus der Münchner Kunstakademie“ München 2006). 1969 war er, wie er in persönlichen Gesprächen immer wieder erzählt hat, Augenzeuge an den Vorgängen, die für bundesweite Aufmerksamkeit sorgten. Im Februar, am „Tag des Zweirads“, wurde als Happening ein Motorradrennen in den langen Gängen der Akademie veranstaltet. Diese und andere Aktionen führten später zu einer mehrmonatigen Schließung des Hauses durch das Bayerische Kultusministerium. Birgit Joos analysiert die Folgen für die Akademie, wie sie auch Jockel Heenes unmittelbar zu spüren bekam: „Wollte man ein Fazit ziehen, was die Studentenunruhen tatsächlich bewirkt haben, so ist … eine lange kulturpolitische Isolation zu verzeichnen.“ (Birgit Joss S. 77 aaO)
Man kann es auch eine „Bleierne Zeit“ nennen. Ein Ausdruck, der in der Bundesrepublik später ganz allgemein für die zweite Hälfte der 70er Jahre verwendet wurde. Nach einer kurzen Phase des Aufbruchs, der sich in der berühmten Regierungserklärung von Willy Brandt 1969 mit dem Ausdruck „Mehr Demokratie wagen“ beispielhaft ausdrücken lässt, zeigten etwa verschärfte Gesetze und Verordnungen, landesweiten Terroristenfahndungen, die Stammheimprozesse und dann der Beginn des NATO-Doppelbeschlusses (nach jahrelanger Vorbereitung wurde von den NATO Außen- und Verteidigungsministern Ende 1979 entschieden, zahlreiche Pershing 2 Raketen mit Atomsprengköpfen auf dem Gebiet der Bundesrepublik zu stationieren) spätestens ab 1975 deutlich die gegenläufige gesellschaftliche und politische Tendenz. Sie ist später unter dem Stichwort „Bleierne Zeit“, dem Titel eines Spielfilms von Margarete von Trotta (1981), tatsächlich als Ausdruck für diese Jahre in die Geschichte eingegangen.
Jockel Heenes hat sich in dem 1979 veröffentlichten Gespräch mit Eike Barmeyer (aaO) ausdrücklich auf die damaligen politischen Umstände bezogen: „Ich meine, dass es heute weder für politische, geistige oder künstlerische Aktivitäten große Spielräume gibt, sich zu entfalten. Ich empfinde unsere Zeit als sehr stagnativ…“ Ebenso hat er das Material „Blei“ schon in den späten 70er Jahren (Die „Grünen“ gründeten sich erst 1980 als Partei) als einer der ersten künstlerisch in Zusammenhang mit Atomenergie und Umweltgiften gebracht: „Blei zum Schutz gegen Atomstrahlen. Atommüll in Bleiwürfeln verpackt. Das Blei in Abgasen, giftig, gesundheitsschädlich. Blei im Erdboden: Kühe, die an einer Wiese nahe einer Bleihütte verendet sind.“ (Im Gespräch mit Eike Barmeyer aaO)
Zwar hatten schon vor ihm einige Künstlerinnen und Künstler das Blei als Material verwendet. Richard Serra etwa entdeckte es zusammen mit Gummi in der zweiten Hälfte der 60er Jahre. So goss er 1968 bei „Splashing“ in einem Ausstellungsraum mit einer raschen Geste flüssiges Blei in einen Winkel zwischen Wand und Boden, das dort verspitzte, sich festsetzte und erstarrte. Es ging ihm dabei allerdings, wie Denise Ellenberger in ihrem Essay über Richard Serra zeigt, vor allem um die Tätigkeit, den Werkstoff und seine Konsistenz. (Denise Ellenberger in „Künstler – Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst“ München 1989). Auch in der „Arte Povera“ tauchte neben anderen „armen“ Materialien wie Erde oder Filz auch Blei auf. Einer der ersten Räume, in dem Werke der „Arte Povera“ außerhalb Italiens zu sehen zu sehen gewesen sein sollen, war 1969 der Aktionsraum 1 in München. Anzunehmen, aber nicht in Texten oder durch Selbstzeugnisse nachzuweisen, dass Jockel Heenes diese Ausstellung gesehen hat. Anselm Kiefer, der 1978 zum ersten Mal Blei „in offenkundiger Weise“ (Daniel Arasse „Anselm Kiefer“, S. 231 München 2001) benutzte, schuf seine bekannt gewordenen Bleiskulpturen erst später. Blei nutzt er vor allem aus künstlerisch-ästhetischen Gründen, um seine Arbeit mythologisch aufzuladen. Jockel Heenes hat mit seiner Art, das Material zu verwenden, von Anfang an ganz andere, eigene Wege eingeschlagen.
Blei taucht früh, 1976 in seinem Werk auf, etwa in der Serie „Blei – Stift – Zeichnung“ (Beispielhaft: WVZ Nr. 1976/015–022, sowie 1976/024-025). Hier kommen zunächst Bleirahmen, später aber auch Bleifolien zum Einsatz. Auch in Objekt- und Bildcollagen nutzt Jockel Heenes das Material Blei von nun an immer wieder und in besonderer Weise, zumal seiner Art zu Arbeiten schon bald etwas Performatives anhaftet. Entscheidender Einschnitt ist sicher die bereits erwähnte Arbeit „Fragmente, Zeichen, Zeit…“ (WVZ Nr. 1977/028) als temporäre Arbeit, die allerdings in einem „nicht geschriebenen Tagebuch“ als fotodokumentarisches Künstlerbuch vorliegt. Bezeichnenderweise erinnert bereits der von Jockel Heenes gestaltete eisgraue Einband des bewusst lapidar gestalteten Fototagebuchs an eine Bleifolie, die um den intimen Inhalt wie zu dessen Schutz gelegt worden ist. Vermutlich nutzte der Künstler dafür sogar das Foto einer Bleifolie, beleg- und nachweisbar ist das leider nicht.
Er hat damals seinen von ihm völlig weiß getünchten Atelierraum in der Jan van Eyck Akademie in Maastricht, den er während seines DAAD Stipendium von September 1977 bis zum Juni 1978 nutzte, in einen leeren, abgeschlossenen Lebens-, Schaffens- und Ausstellungsraum umgestaltet. Das Atelier als „white cube“, das zu einem Beobachtungsraum wird, in dem der Künstler die sich verändernde Zeit und sich selbst in ihr und die Vorgänge in sich während dieser Zeit beobachtet, gleichzeitig den Blick nach außen dokumentiert. Gleichzeitig entstehen in diesen Monaten in einem gewissen zeitlichen Abstand zwei verbleite Skulpturen, denen er Beobachterstatus zuordnet (WVZ Nr. 1978/013, 014). Er lässt sich selbst also virtuell beobachten, von stelenartigen Figuren, die ihrerseits Ergebnis seiner künstlerischen Arbeit sind. Das sagt sehr früh viel über das Dialogverhältnis, das Jockel Heenes stets mit seiner Arbeit verbunden hat: Für ihn immer ein dynamischer Prozess. Im Gespräch mit Eike Barmeyer“ im Künstlertagebuch „Fragmente. Zeichen. Zeit…“ (aaO) nimmt der Künstler dazu ausgiebig Stellung und sagt, er habe die erste, gerade 10 Zentimeter hohe Figur mit gefundenen Materialien – einem kurzen Eisenträger und einem Pappestück, das später durch ein ovales Blech ersetzt wurde – aus der Arbeitssituation in dem Maastrichter Atelier entwickelt. Wenig später entwirft er eine weitere, körpergroße Skulptur aus Eisen und verbleitem und gebrannten Ton, die er den „Beobachter“ nennt (WVZ Nr. 1978/013). „Ich habe mir eine Klarsichttüte über den Kopf gezogen, sie flach gestrichen, die nicht gefüllten Ecken eingeknickt und ein bisschen zusammengefaltet. Nach diesen Modell habe ich dann den Kopf des großen Beobachters in Ton modelliert.“ (aaO). Der Beobachter als ein Teil seiner selbst, wie Jockel Heenes formuliert. Aber auch Symbol des für Heenes blinden, verwundeten Menschen: „Für mich ist das das bedrohliche Bild eines deformierten Menschen, eigentlich das Gegenbild des Menschen. Ich könnte auch sagen: das Beobachtermotiv, das ich in dieser Figur verkörpern wollte, ist für mich ein Symptom unserer Zeit.“ (aaO) Der Beobachter, der „verbleit“ ist. Das Material deutet außerdem hin auf Unbeweglichkeit, Abgeschiedenheit, Isolation, letztlich den Tod. All das legt Jockel Heenes ausführlich dar in dem Gespräch und erwähnt ausdrücklich in diesem Zusammenhang Rückzug und Isolation und „Menschen, die, auch wenn sie scheinbar noch leben, doch eigentlich schon tot sind, irgendwie erstarrt in der Rolle des … Beobachters.“ (aaO) Folglich legt Jockel Heenes den großen Beobachter, dem er ein mit Bleifarbe getränktes Hemd anzieht, in einen von ihm gebauten, verbleiten Sarg. (WVZ Nr. 1978/014).
Während des Arbeitsprozesses verlässt der Künstler dabei den eigenen Beobachterstatus und legt sich selbst in den Sarg, nicht geplant, sondern einer körperlichen und geistigen Erschöpfung folgend und spielt einige Momente die Szene des eigenen Sterbens durch. So zeigen sich zwei Aspekte: Die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergänglichkeit und dem Tod, die viele Jahre immer wieder in der Arbeit von Jockel Heenes auftaucht. Das könnte auch bedingt sein durch den sehr frühen, traumatisch erfahrenen Tod des Vaters, was allerdings nicht zu belegen ist. Und, zum anderen, die vom Künstler deutlich empfundene Bedrohung allen Lebens durch die immer weiter steigende Umweltverschmutzung. Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre, in einer Phase der Fortschrittseuphorie, hatte der „Club of Rome“ als einer der ersten privaten Organisationen eindringlich vor der Zerstörung der Erde gewarnt. Jockel Heenes, der als Künstler in die Post-Popart Zeit hineinwuchs, hat diese Tendenzen mit seiner häufigen Verwendung des Materials Blei künstlerisch aufgegriffen: „Das Blei kann eigentlich für all die anderen Gifte stehen, die unsere Umwelt immer mehr verseuchen, so dass vielleicht irgendwann ein Weiterleben unmöglich wird. Ich habe, mit diesen Bildern vor meinen Augen, dann in Maastricht konsequent alle meine Objekte verbleit. Weil die Folie so dünn ist, kann man noch den Untergrund sehen und spüren, aber die Schicht selbst liegt darüber wie ein graues Leichentuch.“ (im Gespräch mit Eicke Barmeyer aaO)
Anders als etwa die Künstlerinnen und Künstler der Land Art wie Michael Heizer oder Robert Smithon nimmt er die Landschaft nicht als Ort der Kunst wahr, sondern reflektiert mit der Kunst die Gefährdung der Landschaft, die Vergänglichkeit, das Sterben und den Tod. Hier steht er einem Günther Brus oder Arnulf Rainer näher, und sieht sich selbst eher in geistiger Verwandtschaft mit Joseph Beuys, den er sehr schätzte und dessen Arbeit das künstlerische Denken von Jockel Heenes, wie er im persönlichen Gespräch mehrmals bekannte, in den ersten Jahren zeitweise auch beeinflusste. Sichtbar wird das etwa in der Erdpigment- und Bienenarbeiten Anfang der 80er Jahre (WVZ 1980/001-006), genauso wie in Bleiarbeiten wie der „Bahre“ von 1978 (WVZ Nr. 1978/021).
Zwei Bahren- oder Leichenwagen hatte Joseph Beuys 1976 in seinem Aufsehen erregenden „Memento Mori“ als Herzstück des Environments „Zeige deine Wunde“ in einem Hohlraum unter Münchens Maximilianstraße gezeigt, dem damals so genannten „Münchner Kunstforum“, das Direktor Armin Zweite mit der Städtischen Galerie im Lenbachhaus bespielte. Fünf Jahre später, 1981, wird Jockel Heenes eingeladen, eine Arbeit an diesem dunklen Ort, einer aus technischen Gründen ausgebuchteten Fußgängerunterführung, zu zeigen. Er entscheidet sich für eine große Rauminstallation mit unter dem Namen „Schöner Wohnen – FALLOUT“ (WVZ Nr. 1981/001). Die ausladende weiße Wand versieht er mit 84 Tapeten aus einem Tapetenmusterbuch, die er mit Bleifolie überzogen und anschließend im Siebdruckverfahren ’neu gestaltet‘, sprich: farbig bedruckt hat (WVZ Nr. 1981/001 A). Diese Tapeten sehen damit, wie Helmut Friedel es ausdrückt, „wie eine umfangreiche Musterkollektion“ (Im Katalog „Schöner Wohnen – FALLOUT“ Städtische Galerie im Lenbachhaus München 1981) aus, da die darunterliegende Struktur noch spürbar ist.
Die Tapete als Zeichen der Bürgerlichkeit. Vielleicht ließ Jockel Heenes hier Biographisches einfließen, hatte er doch noch vor seinem Studium für kurze Zeit das elterliche Malereifachgeschäft übernommen. Belegen lässt sich das nicht. Hier in dem sogenannten Münchner Kunstforum aber ging es aber um die Tapete als abschirmende Bleiwand. Symbol des Schutzes wie des „Ausblendens“ der atomaren Bedrohung. Damals wurde diese Bedrohung als konkrete Angst von großen Teilen der Bevölkerung erlebt. Durch den Nato-Doppelbeschluss begann die US-Army, Pershing Raketen mit atomaren Sprengköpfen überall in der Bundesrepublik aufzustellen. In der Folge (1983) kam es zu bundesweiten Massendemonstrationen und Sitzblockaden. Auch hier reagiert Jockel Heenes sehr früh auf die politische Situation: Gegenüber der Tapetenwand stellt er eine rechteckige, mannshohe graue Plastik in den Raum. Eine bleiummantelte Kiste, die an einen stehenden Sarg erinnert und widersinniger Weise einen Überlebenscontainer symbolisiert. Zwei Bleibahnen führen von der bunten Tapetenwand auf diese Skulptur im Raum spitz zulaufend zu. Ein bizarrer Fluchtpunkt, wie dem Schild „Fallout Shelter“ zu entnehmen ist, der hinter der Skulptur als Hinweis angebracht ist. Man fand entsprechende Tafeln damals an Häusern in New York als Hinweis auf Schutzräume, sollte ein atomarer Angriff auf die USA erfolgen. Helmut Friedel beschrieb die Wirkung der Installation von Jockel Heenes so: „Die Grundstimmung, die die gesamte Installation beim Betrachter hinterlässt, ist beklemmend. Das Material Blei in seiner Weichheit, seinem Gewicht und seiner tristen Farbigkeit erweckt das Gefühl lähmender Schwere, von Schwermut. Die Aussage, die Jockel Heenes in dieser Arbeit formuliert, ist insgesamt mehr von schwermütiger Beklemmung als von aggressiver Anklage geprägt.“ (Helmut Friedel aaO)
Die „bleierne Zeit“ eben, die Jockel Heenes in seinem frühen Werk so eindringlich formuliert hat.