Thomas R. Huber
Zur Zeit Am Ort
Durch Jockel Heenes‘ Erfahrungsräume
Durch Jockel Heenes‘ Erfahrungsräume
Kunst lebt räumlich. Ihre Produktion wie ihre Rezeption findet in Räumen statt, die konkret architektonisch, aber auch ebenso kulturell, sozial, oder individualpsychologisch definiert sein können. Räume mit ihren Zentren, Peripherien und Grenzen sind immer zugleich statische Strukturen und Orte unendlicher Möglichkeiten. Sie tragen die Überschreitung ihrer Grenzen in sich.
Jockel Heenes setzte sich in der gesamten Zeit seines künstlerischen Schaffens mit dem Raum auseinander, wobei das Spektrum hier von Installationen über Kunst am Bau bis zu raumgreifenden und raumhaltigen Objekten reicht. In meiner Untersuchung von Wesen und Funktion des Raums in Heenes’ Arbeit sehe ich mich daher einer enormen Fülle von Werken gegenüber, die jedoch sämtlich um das Thema der Raumerfahrung als Selbsterfahrung kreisen, weswegen ich meinen Fokus nicht auf die explizit architekturbezogenen und installativen Werke begrenzen möchte. Auf der anderen Seite sehe ich mich im Bereich der Kunst am Bau und im öffentlichen Raum einer großen Zahl von Projekten im Rahmen öffentlicher Wettbewerbe gegenüber, die nicht realisiert wurden. Aufgrund ihrer detaillierten Ausarbeitung in Projekttexten und ihrer plastischen Darstellung in Modellen und Entwürfen, aber auch aufgrund der Tatsache, dass Heenes sich in anderen Arbeiten intensiv mit der Virtualität von Raumentwürfen auseinandergesetzt hat, beziehe ich diese Projekte als vollwertigen Teil seines Werks in meine Untersuchung mit ein.
Selbstbehauptung im Raum
Jockel Heenes wählte in den Anfangsjahren seiner künstlerischen Entwicklung einen Raum als mächtige und zugleich latent feindliche Matrix seiner Arbeit. Er hatte während eines neunmonatigen Gastaufenthalts in der Jan van Eyck Akademie in Maastricht ein Atelier zum Arbeiten und ein Zimmer zum Leben zur Verfügung. Das Zimmer verwandelte er unmittelbar nach seiner Ankunft in einen „white cube“: Er strich den Raum komplett weiß und bespannte den Fußboden mit einer weißen Folie. Der kalte, spartanisch eingerichtete Raum bot ihm absolute Neutralität, ohne jegliche Objekte persönlicher Geschichte. Heenes fühlte sich in ihm ganz bei sich und seiner Arbeit – und zwar vollkommen im Hier und Jetzt. Im Mittelpunkt dieses Experiments stand das Ankommen in einer „Nullpunktsituation“, aus der heraus eine neue Phase des konsequenten, von außen ungestörten Arbeitens an Ideen und Projekten erwachsen sollte.[1] So wurde das Zimmer zum radikalen Erfahrungsraum.
Heenes dokumentierte seine künstlerische Tätigkeit in Maastricht fotografisch in einem „Tagebuch in Bildern“[2], das er an anderer Stelle auch „ein nicht geschriebenes Tagebuch“[3] genannt hat. (WVZ Nr. 1977/028)[4], Er publizierte es in Form von Kontaktabzügen der Filmstreifen sowie einzelnen großformatigen Abbildungen aus diesen Filmen unter Verzicht auf jegliche detaillierte Bildinformation als Katalogbuch mit dem Titel „Fragmente. Zeichen. Zeit.“ (1979). Wenn ich dieses Buch durchblättere, sehe ich eine erstaunliche Fülle von Arbeiten – jedoch niemals für sich, sondern immer im Raum. Heenes fotografierte sowohl den Atelier- als auch den Wohnraum mit diversen gerade entstandenen oder eben erst entstehenden Arbeiten konsequent in den immergleichen Perspektiven, die Kamera exakt frontal auf jede der vier Wände gerichtet und diese formatfüllend ins Bild nehmend. So erscheinen die Skulpturen, Objekte und sonstigen Arbeiten mal zentral, sofern sie an der Wand stehen, mal nur im Anschnitt am Bildrand. Die Arbeiten sind immer in ihrem elementaren Bezug zum Raum – dem Ort ihrer Entstehung wie auch ihrer Erscheinung – existent. Heenes betrat im September 1977 sein Gastatelier mit der Absicht, sich „auf sich selbst zurückzuziehen“ – Selbsterfahrung im Dialog mit dem Um-Raum: „[…] das erste, was ich getan habe, als das weiße Zimmer fertig war: ich habe mir eine rote Hose angezogen und einen schwarzen Pullover und mich mitten in den Raum gestellt. Sicher war da auch die Absicht dabei, einfach einmal intensiv die Erfahrung mit einzelnen Farben und Dingen zu machen. Ich hatte mir zum Beispiel einen Stuhl besorgt, den ich auch erst weiß streichen wollte. Ich habe es dann nicht gemacht, weil ich merkte, ich erfahre vielleicht gerade dann etwas über diesen Stuhl, wenn ich ihn in dieser künstlichen weißen Umgebung so lasse, wie er ist. Da stand er als Objekt, aber mit der Objektbestimmung ‚Möbel’. Etwas scheinbar Selbstverständliches, was in diesem Weiß plötzlich nicht mehr selbstverständlich war. Für mich war das sicher auch so eine Art Übung im Wahrnehmen. Es ging mir um die Erfahrung von Dingen, die als solche dann einfach in diesem weißen Raum waren. Konzentriert und irgendwie verwandelt. Nicht, daß sich dabei die Dinge verwandelten, sondern meine Wahrnehmung.“[5]
Diese Verwandlung der Wahrnehmung basiert nicht nur auf der „Verrückung“ der Objekte. Der Raum, in dem sich die Dinge befinden, ist im Prozess der Wahrnehmung auch mein Ort als Betrachter, der ich die Dinge immer in diesem Raum wahrnehme. Meine Wahrnehmung ist ein komplexer Bewusstseinsprozess der permanenten Interaktion von Eigenem und Anderem, in dem ich das Objekt der Wahrnehmung in einen lebendigen Bezug mit mir setze. Die daraus erwachsenden Gefühle und Gedanken sind Ausdruck meiner Identität im Dialog mit dem Anderen. Wird dieser Prozess von mir aktiv reflektiert, so eröffnet sich aus der Wahrnehmung des außerhalb von mir Liegenden eine intensive Erfahrung meines Selbst. Damit gestalte ich das Wahrgenommene aktiv mit und mache es zu meinem Spiegel. Jockel Heenes’ Kunst handelt in vielfältiger Form von der Wahrnehmung als zutiefst reflexivem Prozess. Die aus diesem Ansatz entstandenen Werke setzen sich aktiv mit der vieldimensionalen Komplexität der Wahrnehmung auseinander und tragen die elementaren Parameter dieses Prozesses in sich: Dialogische Grundhaltung, Freiraum innerhalb der konkreten Werkstruktur, offene Grenzen. Heenes suchte nie nach einer Autonomie des Werks, die aktiv keine mitgestaltende Partizipation von Seiten des Rezipienten vorsieht und eine Unabhängigkeit von der konkreten Situation seiner Erscheinung behauptet. Vielmehr verlangen seine Arbeiten – egal, ob es nun Objekte, Performances, Installationen, oder Gestaltungen im öffentlichen Raum sind – nach der lebendigen Präsenz der Menschen, von denen sie als Dialogpartner eines Erfahrungsprozesses gewählt werden. Die Arbeiten finden ihre Vollendung in der konkreten Situation der Begegnung.
Wenn Heenes öffentliche Räume gestaltete, so waren dies immer Interventionen, die auf mehr oder weniger radikale Weise konkretisierend wirkten: Der Raum verwandelte sich von der Struktur zu einer Situation, nämlich der Situation der lebendigen Anwesenheit von Menschen. Diese aktiv aufzunehmen und mit ihnen in einen Dialog zu treten, war sein Ziel. Paradigmatisch wurde dieser Ansatz in der gemeinsam mit seinem holländischen Künstlerfreund Henk Wijnen entwickelten und über sechs Jahre von 1978 bis 1983 fortgesetzten Serie „Reserviert / Gereserveerd / Reserved“ realisiert, die in unterschiedlichster Form Räume – von der wenige Quadratzentimeter großen Fläche in Tageszeitungen bis zu Gebäuden und städtischen Arealen – einem konkreten Zweck zuwidmet. Heenes und Wijnen griffen in bestehende Strukturen ein und „reservierten“ in Form temporärer Interventionen Frei-Räume.
So sprayten die beiden ohne Ankündigung oder Genehmigung auf die frisch fertig gestellte Wand der Jan van Eyck Akademie Maastricht im Dezember 1978 in halbmeterhohen, reichlich krakeligen Buchstaben über die ganze Breite des Hauses „deze Plaats is helemaal gereserveerd voor Jockel + Henk (Dieser Platz ist ganz reserviert für Jockel + Henk)“ (WVZ Nr. 1978/044). Im Januar 1979 schrieben sie dann in einer nächtlichen Aktion in monumentalen Lettern den Text „De sneeuw die overblijft IS HELEMAAL GERESERVEERD VOOR IEDEREEN (Der Schnee, der übrig bleibt, ist ganz reserviert für jeden)“ in die schneebedeckte Fläche des Maastrichter Vrijthofs, einem Platz im Zentrum der Stadt (WVZ Nr. 1979/051). Beiden Interventionen gemeinsam ist, wie sie Orte, die in ihrem öffentlichen Charakter für eine diffuse „Allgemeinheit“ gedacht sind und die von dieser zwar frei genutzt werden, in denen aber eine Hinterlassung persönlicher Spuren nicht vorgesehen ist, bezeichnen – und zwar handschriftlich, also im Ausdruck ihrer individuellen Körperlichkeit. Die „Reservierungen“ sind jenseits ihrer expliziten Botschaft Akte, die Räume neu erscheinen lassen. Durch die anarchische Form der Intervention wird die demokratische Oberfläche verletzt und die kühle Entrücktheit des öffentlichen Raums provoziert. Hier kommt es zur individuellen Inbesitznahme dessen, was gemäß der demokratischen Grundordnung allen, damit aber allen auch nur in sehr eingeschränkter Form gehört.
Im Zentrum der „Reserviert“-Arbeiten steht die Absicht, Bewusstsein zu schaffen – über die Konfrontation mit einem radikal individualistischen Statement mich als Betrachter und Teilhabender in die Reflexion meiner Situation, meiner Existenz im öffentlichen sozialen Raum zu bringen. Im Februar 1980 hängte Heenes in einer Ausstellung in der Münchner Galerie Dany Keller einen Spiegel an die Wand, auf dem mit Pinsel und Farbe ebenfalls „Reserviert“ geschrieben steht (WVZ Nr. 1980/015). Ein zeitgenössisches Foto zeigt ihn, die Kamera vor dem Gesicht. Mit dem Spiegel taucht hier erstmals ein Objekt auf, das in den raumbezogenen Arbeiten zu einem zentralen Gestaltungselement werden wird.[6] An den Wänden links und rechts handeln Objektkästen, vom „Leben“ und vom „Tod“ (Tote Bienen auf Nadeln formen mit ihren Körpern diese Begriffe) (WVZ Nr. 1980/005A, B). Dazwischen fungiert der beschriftete Spiegel als zentraler Dreh- und Angelpunkt, als Schnittstelle, über die die Menschen im Raum mit ihrer eigenen Gestalt inmitten der Arbeit sichtbar werden sollen. Das Foto dokumentiert Heenes’ Blick und ist damit so etwas wie eine Anleitung zum Gebrauch der Arbeit: Im Raum sein, sich selbst im Spiegel im Raum sehen und zugleich die Schrift wahrnehmen, die ohne genau bestimmbaren Ort das Bild durchdringt. Der Spiegel, wie Heenes ihn hier einsetzt und wie er in seinen späteren Arbeiten so oft wiederkehren wird, ist voll mit Raum und zugleich eine permanente Leerstelle, die sich erst füllt, wenn ein Mensch die Situation betritt.
Be-Zeichnung, Fragmentierung, Reflexion
In all diesen Arbeiten funktionierte die Schrift als radikale Be-Zeichnung des Raums. In den kommenden Jahren transformierte Heenes dann das Medium des Texts in reduzierte geometrische „Zeichen“, mit denen er sowohl zwei- als auch dreidimensional arbeitete.
Das „Zeichenfeld“ von 1983/84 ist eine große Installation von geschweißten Stahlkörpern – stelenartigen Objekten und fragmentierten Lineaturen – das in der Gruppenausstellung „so zu sehen“ in der Münchner Künstlerwerkstatt Lothringerstraße (1984) den größten Ausstellungsraum komplett besetzte (WVZ Nr. 1984/001). Andere Anordnungen dieser Installation, wie etwa im Chamer Cordonhaus (1984), sind dokumentiert, das Prinzip bleibt aber immer dasselbe: Die „Zeichen“ besetzen den Raum in mobiler temporärer Ordnung. Sie sind, anders als die Bildsprache der früheren Arbeiten, in denen Inhalte explizit formuliert worden waren, nicht mehr eindeutig lesbar: „Frühere Arbeiten hatten eher Monologcharakter, an dessen Stelle jetzt eine Zwiesprache getreten ist. Ich führe den Dialog mit mir und mit dem Betrachter. Es geht mir um die Chiffre, die ich nicht entschlüsseln will, die jeder unterschiedlich weit entziffern kann oder nur wahrnehmen wird, wo auch die Verunsicherung eine ganz wichtige Komponente ist. Ich gebe keine eindeutigen Antworten mehr; so sollen die Arbeiten als Ansatz zu einem Gespräch mit den Anderen verstanden werden.“[7] Im „Zeichenfeld“ bewegten sich die Menschen durch den Raum und nahmen die Elemente der Installation in immer neuen Konstellationen im Dialog mit der umgebenden Architektur wahr. Sowohl durch ihre physische Größe als auch durch ihre geometrische Gestalt erscheinen diese Elemente zu einer temporären, wandelbare Formelemente des Raums.
Gerade in der Künstlerwerkstatt Lothringerstraße variierten und transformierten sie das konstruktive Gerüst des Raums mit seinen vertikalen Pfeilern und horizontalen Trägern. Die kryptische Zeichenhaftigkeit der Installation als fremdartiger Riesentext verwandelte den Raum in einen Ort des Suchens und wahrnehmenden Experimentierens. Die Zeichen zu lesen, hing unmittelbar davon ab, sich im Raum auf die eine oder andere Art zu positionieren. Die Verunsicherung, von der Heenes sprach, ist die Grundvoraussetzung für eine nachhaltige Öffnung der Wahrnehmung. Sie ermöglichte ein intensives Erleben der Situation, die Teilhabenden erfuhren sich mit ihrer Fähigkeit zum beliebigen Wechsel der Perspektive als aktive Gestalter und machten sich so den Raum zu eigen. Waren noch andere Menschen anwesend, so geriet der Weg im Feld durch den Raum zu einem Wechselspiel des Wahrnehmens und Wahrgenommen Werdens, wodurch die Reflexion der eigenen Position unmittelbar angeregt wurde.
Der Dialog zwischen plastischem Objekt und Raum prägte auch Heenes’ erste große Kunst am Bau-Arbeit, die Gestaltung des Haupttreppenhauses der Fachhochschule Würzburg aus dem Jahr 1987 (WVZ Nr. 1987/048). Sie besteht aus zwei Teilen, einer plastisch-architektonischen und einer konzeptuell-installativen. In einer zentral platzierten monumentalen Plastik griff Heenes ein architektonisches Funktionselement des Raums auf: Zwei unterschiedlich lange, mehrere Meter hohe U-förmige Träger, mit denen die Freitreppe in der obersten Etage von der Decke abgehängt ist. Von ihnen fertigte er zwei identische, nur in der Größe etwas reduzierte Repliken aus Messingplatten (verschraubt auf einer Eisenunterkonstruktion), die er, um 180 Grad gedreht, im Erdgeschoß auf ein Feld von Kupferplatten platzierte, wo sie bis ins erste Obergeschoß hinaufreichen (WVZ Nr. 1987/048 C). Die Träger der obersten Etage verkleidete er mit Messingblech und knüpfte so den Bezug zwischen oben und unten noch enger (WVZ Nr. 1987/048 D). Die einzige visuelle Variation besteht im Arrangement – der gedrehten Ineinanderführung – der beiden Elemente unten, wohingegen sich die beiden Träger oben, ihrer Funktion entsprechend, in einer Reihe nebeneinander befinden. Wohl nur sehr wenige Besucher des Orts würden auf Anhieb erkennen, dass die Messingplastik im Erdgeschoss ein architektonisches Element im Raum wiederholt und ein in der Gesamtheit des Raums relativ unscheinbares Detail zu einem spektakulären Objekt transformiert. Mit der Verkleidung der Träger im dritten Geschoß wird der Zusammenhang eindeutig und zugleich kommt es zu einer Irritation der Wahrnehmung. Architektur und Plastik werden zu Zwillingen, ähnlich und doch ungleich, die eindeutig auseinander zu halten unmöglich ist. Sie haben ihre individuellen Existenzen und sind doch untrennbar miteinander verbunden. Menschen im Raum, die dem Zwillingspaar begegnen, bekommen einen völlig neuen Blick auf die Struktur des Raums und die Ästhetik der Funktion, zugleich wird der Raum diffus, da die funktionale Logik seiner Struktur durch die artfremde Replik aufgebrochen ist.
An den Wänden des Treppenhauses, der Plastik gegenüber, brachte Heenes auf den drei Etagen Texte aus Spiegelbuchstaben an. Von unten nach oben steigend, finden sich nacheinander drei Begriffe: „DER GLANZ“, „DAS SEIN“, „DER SCHEIN“ (WVZ Nr. 1987/048 E). Die primäre Irritation liegt für mich in der Art ihrer Montage: Schräg ziehen sich die Buchstaben über die Wand – aus dem rechten Winkel gerückt wie öffentliche Ankündigungen oder grelle Plakate, die mit einem visuellen Affront ins Auge stechen wollen. Die Spiegelbuchstaben tauchten in Heenes’ Werk erstmals 1985 in mehreren Installationen auf. In „AM FALSCHEN ORT – ZUR FALSCHEN ZEIT“ im Kunstverein München (WVZ Nr. 1985/026) und „ZUR ZEIT AM ORT“ im Kunstverein Kassel (WVZ Nr. 1985/027) spielen sie eine zentrale Rolle. Diese Arbeiten markieren zusammen mit der ebenfalls betont textorientierten Installation „IST ES WAS ES IST“ in der Münchner Galerie der Künstler aus demselben Jahr (WVZ Nr. 1985/025) einen wichtigen Wendepunkt in Heenes’ Werk. Mit ihnen beruhigte und klärte sich die Bildsprache und nahm eine kühle konzeptuelle Klarheit an. Gleichzeitig gewann der Werkbegriff eine radikale Offenheit, in der nun nicht mehr Objekte, sondern Fragen im Mittelpunkt stehen, Fragen, die er mit seinen erratischen Statements zu Ort, Zeit und Realität der Begegnung an mich richtet. Denn in diesen Statements – auch wenn sie nicht als Frage formuliert sind – bin ich indirekt immer angesprochen: Wo stehe ich, wo bin ich, was ist mein Bezug zur Welt?
Die Titel der Installationen beschreiben Situationen, sie konkretisieren Formen der Existenz in Raum und Zeit. Was bereits im weißen Atelier von Maastricht angelegt war – der Hunger nach elementarer Erfahrung der Dinge, Konzentration und Verwandlung, Irritation und Klärung der Bezüge der eigenen Identität zur Welt – wurde nun von Heenes in bildnerisch-philosophischen Diskursräumen benannt. Diese legte er mit dem Ziel größtmöglicher Freiheit für die sich in ihnen bewegenden Menschen und ihre kreativen Prozesse im Dialog mit dem Gegebenen an. Die Spiegeltexte sind dabei, wie Heenes selbst sagte, die Weiterentwicklung der „verschlüsselten Zeichen“, wie sie etwa im „Zeichenfeld“ begegneten.[8]
Heenes formuliert die Funktion der Spiegeltexte im Projekttext zur Gestaltung des Würzburger Treppenhauses so: „Die Funktion der Spiegelglasbuchstaben dient der fragmentierten Wahrnehmung. Der Betrachter, der sich in Teilen widergespiegelt sieht, wird so selbst Teil meiner Arbeit. Diese optischen, vom Selbst bestimmten Veränderungen können sowohl gedankliche Prozesse, wie auch Auseinandersetzungen mit dem Kunstwerk anregen. Im Vorbeigehen entsteht ein Film in den Spiegeltexten. Teile der Plastik und des Betrachters befinden sich in steter Veränderung, die Geschwindigkeit und Art der Veränderung wird vom Betrachter gesteuert.“[9] Wie der Spiegel in der Installation mit den Textobjekten „Leben“ und „Tod“ aus der „Reserviert“-Serie von 1980 dienen die Spiegelbuchstaben also dazu, die Menschen in ihrer Wahrnehmung unmittelbar in den Kontext des gestalteten Raums einzubetten.
Mit der Textualität erhält die Reflexion eine explizite Botschaft. In den Installationen „AM FALSCHEN ORT – ZUR FALSCHEN ZEIT“ und „ZUR ZEIT AM ORT“ formulieren die Spiegelbuchstaben eben diese Worte und verorten jede/-n, die/der das liest, in einer ganz konkreten Situation. Egal ob negativ („falsch“) oder wertfrei konstatiert, werden die sich selbst reflektierenden Menschen sich ihrer aktiven, für das Werk essenziellen Präsenz bewusst. Die Zeit und der Ort – die konkrete Situation, die auch unter negativen Vorzeichen stehen kann – bringen in der Wahrnehmung und aktiven Teilhabe das Werk zur Vollendung. Die Begriffe im Würzburger Treppenhaus sind von ähnlich elementarer Bedeutung, berühren aber eher die Grundlagen der Ästhetik: Mit der Trias „DER GLANZ“, „DAS SEIN“, „DER SCHEIN“, denen ich, die Treppen hinaufsteigend, begegne und in denen ich mich im Organismus des gestalteten Raums reflektiere, bewege ich mich durch die Ebenen der Wahrnehmung und durchlaufe einen Prozess, in dem ich meine Identität („DAS SEIN“) zwischen sinnlicher Attraktion („DER GLANZ“) und inneren wie äußeren Bildern („DER SCHEIN“) im permanenten Wandel erfahre.
Eine wichtige Eigenschaft der Wahrnehmung ist, wie von Heenes selbst im eben zitierten Projekttext angesprochen, die Fragmentierung der Welt in Ausschnitte, in subjektive Bilder. So wird auch die Architektur des Raums fragmentiert, wobei Heenes hierfür zwei verschiedene Visualisierungen zusammen einsetzt: Einmal ist da die dynamische Fragmentierung des Raums im Spiegelbild, zum anderen arbeitete er mit der konkreten Isolierung und Transformation von Architekturfragmenten, so etwa die beiden Trägerelemente in Würzburg. In zwei Installationen von 1986 ging Heenes bereits ähnlich vor. Unter dem programmatischen Titel „TEILE SIND NICHT DAS GANZE ABER DAS GANZE IST AUCH NUR EIN TEIL“ (WVZ Nr. 1986/012) hatte er aus Holz gefertigte, rot lackierte Fragmente eines Gebäudegrundrisses mit vielfältigen Schwüngen, Vor- und Rücksprüngen und Pilastern an die Wand montiert. Dieser Grundriss bezeichnete das Vestibül der Städtischen Galerie Erlangen, das die Besucher auf dem Weg zu dieser Installation bereits durchschritten hatten. Nun begegneten sie der bruchstückhaften Erinnerung ihres eben zurückgelegten Weges wieder. In einer der gegenüberliegenden Ecken war eine Tafel mit dem titelgebenden Satz in eng gesetzten Spiegelbuchstaben angebracht. So erfuhren die plastischen Fragmente beim Blick in den reflektierenden Text eine weitere Zerstückelung.
Hybridität
Heenes realisierte dieses duale Prinzip der Gestaltung – bildnerische und plastische Elemente stehen im Dialog mit textuellen Komponenten, die Lust am Sinnlichen lebt an der Seite konsequenter und tiefgründiger Reflexion – noch in zwei weiteren Werken am Bau (Gestaltung von Räumen der Dresdner Bank in Augsburg und Freising, WVZ Nr. 1989/111, 1989/112), um es dann 1991 in dem großen Projekt für Lindenberg erstmals nach draußen zu tragen und es im öffentlichen Raum der Stadt weiterzuentwickeln (WVZ Nr. 1991/009). Dieser komplexen Intervention ging eine gründliche Erkundung und fotografische Erfassung der urbanen Architektur voraus, in der Heenes sich den Bruchstellen in der Idylle der Westallgäuer Kleinstadt widmete.
Die Lindenberger Installation umfasste schließlich neun Werke: Zwei Tafeln mit Spiegeltexten, „SCHÖNFÄRBEREI“ und „NEOSTADTHALLE“ (WVZ 1991/009H-I), markierten die Fassaden der neu gebauten Stadthalle und eines zum Abbruch vorgesehenen Fabrikgebäudes. Sie spiegelten den städtischen Raum und reflektierten mit ironischer Wortwahl aktuelle Planungssünden: Anstatt alte Bausubstanz, wie etwa das Fabrikgebäude, neu zu nutzen, wurde ein unschöner Neubau realisiert. Neben diesen konkreten textuellen Statements setzte Heenes skulpturale Markierungen an zwei anderen Orten der Stadt. Dort thronten zwei plastische Objekte, kristalline Fünfeckkörper aus Holz, in leuchtenden Farben gefasst, auf hohen verzinkten Metallröhren. Sie repräsentierten in ihrer disparaten Ästhetik ebenfalls jene Gebrochenheit, wie sie für die schwierige Entwicklung einer Gemeinde wie Lindenberg – zwischen touristischer Idylle und Wachstum ohne ästhetischen Masterplan – typisch ist (WVZ Nr. 1991/009A-B). Die restlichen fünf Arbeiten waren Tafelbilder: Auf Holzplatten aufgezogene und in Eisenrahmen gesetzte großformatige Fotoabzüge in Schwarz-Weiß, die Heenes malerisch überarbeitet hatte (WVZ Nr. 1991/009C-G).
Kurz vor dem großen Projekt hatte er begonnen, diese eigenartigen Kompositbilder zu entwickeln, die in den folgenden Jahren einen wichtigen Platz in seinem Werk einnehmen würden. Für Lindenberg wählte er selbst fotografierte Stadtansichten, die Orte jenseits der idyllischen Westallgäuer Fassade dokumentierten, und zwar in extremen Perspektiven voller schräger, stürzender Linien und harter Überschneidungen. In diese Fotoabzüge platzierte er Fünfeckkörper in leuchtenden Primärfarben, wie sie auch als physisch reale Objekte zweimal im Stadtbild zu finden waren, sowie in drei der Bilder zusätzlich farbige Liniengerüste, die auf der Fünfeckform basieren. Diese von Heenes so genannten „Simulationen“ sind keine Entwürfe, die konkret auf die reale Ausführung von Kunst im öffentlichen Raum hinführen und zeigen wollen, wie es dann aussehen wird, wenn die Skulptur installiert ist. Vielmehr erlebe ich diese Arbeiten als hybride Verbindung unterschiedlicher Realitätsebenen, die dafür gedacht ist, in der reflektierten, gestaltenden Wahrnehmung ineinander zu fließen, ohne zu einem geschlossenen Bild zu werden. Heenes fertigte originialgroße Silhouetten der geplanten Fünfeckkörper aus Zeitungspapier an, die er so lange auf dem Fotoabzug verschob, bis er den für ihn idealen Platz in der Gesamtkomposition gefunden hatte. Dann klebte er jede einzelne Fläche sorgfältig ab und brachte die Acrylfarbe in Spachteltechnik auf den Abzug auf. Die „Simulationen“ realisieren das Prinzip der offen gehaltenen, diskursiven Situation von Raum, Architektur und künstlerischer Intervention, wie ich es bereits in verschiedenen Formen in Heenes’ Arbeit erlebt habe, auf ganz neue Weise und verschieben die Balance weiter in Richtung einer intensiven Farbigkeit als Ausdrucksmittel im Raum.
Heenes montierte die fünf Lindenberger „Simulationen“ an Außenfassaden von sehr unterschiedlichen Häusern – eine davon über den Schriftzug „SCHÖNFÄRBEREI“ an die neue Stadthalle –, womit ihm in meiner Wahrnehmung ein weiterer Moment der Irritation gelang: Diese Bilder sind keine Plakate für draußen, sondern akribisch ausgeführte, verletzliche Objekte, die dazu einladen, genau hinzuschauen und sich in die Delikatesse der Spachteltechnik zu vertiefen, mit der Heenes seine geometrischen Körper angelegt hatte. So waren sie Bilder, die sich „zur Zeit am Ort“ am befanden und in dieser Situation mit anderen „Zeichen“ wie etwa dem etwas bizarren Schild des Restaurants „Chez Daniel“, unter dem die Simulation WVZ Nr. 1991/009 D angebracht war, in einen höchst fragilen Dialog traten, in dem sich den Menschen „zur Zeit am Ort“ völlig neue Perspektiven auf ihren Umraum eröffneten.
Die Gestaltung des Lindenberger Stadtraums ist für mich eine der überzeugendsten Realisierungen einer Form von ästhetischer Hybridität, die ich in allen Phasen von Jockel Heenes’ raumbezogenem Werk als zentrales Prinzip wahrnehme. Es ist ihm hier gelungen, die vorhandenen lebendigen Bruchlinien und Spannungskräfte des Ambientes so zu akzentuieren, dass sich keine Lösungen, sondern Fragen eröffnen. Seine Interventionen bleiben Fremdkörper, und seine Kunst manifestiert sich in der Fähigkeit, extreme Kontraste so zu setzen, dass seine Gestaltungselemente und deren Ort in ihrer jeweiligen Eigenart erfahrbar bleiben – und dass sich zwischen ihnen dennoch ein komplexer Dialog entspinnt, in dem in meiner Wahrnehmung ein neues Drittes entsteht. Die Radikalität, mit der in den „Simulationen“ die farbigen Körper ohne jegliche ästhetische Vermittlung in die Architekturfotografien gesetzt sind, manifestiert einen Mut zum Freilassen, wie ich ihn auch in seinen Arbeiten im physischen Raum erlebe – eine Verschmelzung der Realitätsebenen ist möglich, setzt aber die aktive Gestaltungsarbeit der Wahrnehmung zwingend voraus.
In den „Simulationen“ steht für mich die Qualität der Begegnung im Vordergrund, in der sich ein heterotoper Raum, also ein Raum von heterogener Realitätsstruktur, eröffnet. In der malerischen Setzung treten zwei verschiedene Raumstrukturen, die reale der Fotografie und die frei konstruierte der Fünfeckkörper, miteinander in Bezug. Diese Begegnung ist situativ – sie vollendet sich erst in der aktiven Gestaltungsarbeit der Wahrnehmung zu einer individuellen Synthese – und lässt auf diese Weise unendlich viele Varianten des gegenseitigen Bezugs offen. Das bedeutet eine hohe spielerische Qualität.
Heenes machte 1998 in seiner Gestaltung einer weitläufigen Platzsituation in der Innenstadt von Langen bei Frankfurt das Spiel zum expliziten Thema. „Schach dem Rathaus“ nannte er sein Konzept für einen Platz außerhalb des historischen Stadtkerns (WVZ Nr. 1998/001). Hier galt es, das Rathaus und das Bürgerhaus, die durch eine vielbefahrene Straße voneinander getrennt sind, miteinander zu verbinden. Kultur- Freizeit- und Sporteinrichtungen teilen sich den Platzraum mit Restaurants und Geschäften. Wohngebiete grenzen unmittelbar an. Dieser urbane Knotenpunkt zeichnet sich durch eine disparate Dynamik aus: Durchgangsverkehr trifft auf lokale Bewegungen in unterschiedlichen Tempi und Richtungen. Üblicherweise werden an solchen Orten Brunnen installiert, Heenes erarbeitete stattdessen ein Konzept, das die Platzsituation nicht zu zentrieren versuchte – ein solches Vorhaben mit Mitteln der Kunst wäre von vornherein zu Scheitern verurteilt –, sondern ihr einen künstlerischen Überbau geschenkt hätte, welcher das Leben dieses Orts in ein Bild fasste. Heenes realisierte auf dem Platz eine temporäre Installation teils aus Modellen, teils aus fertigen Objekten, die durch eine Ausstellung von Modellen und speziell für dieses Projekt geschaffenen „Simulationen“[10] im Museum der Stadt Langen ergänzt wurde. Leider kam es nie zu einer dauerhaften Realisierung des Projekts.
Folgende Figuren sollten die Installation bilden: „Der König“, eine über vier Meter hohe, aus Fünfeckkörpern konstruierte Plastik aus Stahl und Bronzebleche und Neonröhren, die in rotem und blauem Licht erstrahlt, auf dem zentralen Parterre des in Terrassen gegliederten Platzes vor dem Haupteingang des Rathauses (WVZ Nr. 1998/001A, B, C); „Die Dame“, die realistisch modellierte, knapp lebensgroße Figur einer Frau im leichten roten Kleid, die auf der anderen Seite der den Platz durchschneidenden Ringstraße auf einem aus grünlackierten Edelstahlrohren in Säulenform gebauten Sockel mit Lichtquelle und einem eingebautem Motor montiert werden sollte, der die Figur in Drehbewegungen versetzen kann (WVZ Nr. 1998/001D, E); „Der Turm“, wie „Der König“ ein lineares Gerüst aus Edelstahl in Fünfeckform und mit farbigem Neonlicht bestückt, das entweder auf dem Dach des Rat- oder des Bürgerhauses liegend über die Kante ragen sollte (WVZ Nr. 1998/001F); „Der Läufer“, eine Bronzeplastik von 1991 (WVZ Nr. 1991/012), die, aus flachen Fünfeckkörpern in der Art einer anthropomorphen Stele aufgebaut, auf einem Treppenabsatz unterhalb der Brücke vor dem Bürgerhaus in Nachbarschaft zur Dame ihren Platz hatte (WVZ Nr. 1998/001G-H); „Das Pferd“, also das Tier des Springers, wie die Dame in realistischer, aber reduzierender und klärender Formensprache modelliert und wie die Dame als unterlebensgroßer Bronzeguss konzipiert (WVZ 1998/001I, J-K)[11]; eine Gruppe von fünf mal zwei „Bauern“, Fünfeckkörper aus eingefärbtem Beton, die von Heenes in der Projektphase mit älteren Arbeiten (WVZ Nr. 1991/001A-B aus der Lindenberger Installation) besetzt wurden und an verschiedenen Plätzen zu beiden Seiten der Brücke vorgesehen waren.
„Schach dem Rathaus“ ist ein extrem heterogenes Konzept. Dieses facettenreiche Ensemble wäre, hätte die Stadt es realisiert, auf dem Platz eher zu Besuch gewesen, anstatt es zu besetzen. Die Heterogenität basiert auf Heenes’ Umgang mit dem Raum nicht als ausschließlich architektonisch definierter Struktur, sondern als Ort, an dem sich Menschen begegnen und an dem sich in einer Art Mikrokosmos die soziokulturellen Prozesse des Lebensraums Stadt manifestieren. Wie in Lindenberg hätte in Langen die Hybridität der Installation als eine Art Katalysator des städtischen Lebens funktioniert.
Sinnesräume – Spielräume
In den letzten Jahren von Heenes’ künstlerischem Schaffen gewann in der raumbezogenen Arbeit die sinnliche Ebene der Ästhetik deutlich an Bedeutung. Licht, Farbe und geometrische Raumstrukturen wurden zu den bestimmenden Ausdrucksmitteln. Im Jahr 2000 befasste er sich mit einem Raum, der dem „white cube“ seines Maastrichter Ateliers sehr ähnlich war: Eine Zelle des ehemaligen Gefängnisses Baden-Baden, in dem sich im Rahmen eines Gruppenprojekts Künstler/-innen mit den bedrückenden Räumen des Strafvollzugs auseinandersetzen sollten (WVZ Nr. 2000/046). Heenes zog über alle Wände, auch über das kleine vergitterte Fenster und den ärmlichen Spiegel, ein Geflecht von großen gemalten Fünfeckformen in Rot und Blau in jeweils vier verschiedenen Tönen. Die Fünfecke sind dort, wo sie sich überschneiden, so gemalt, dass ein räumlicher Eindruck entsteht. Sie scheinen übereinander und vor der Wand zu schweben. Wie Heenes in seinem Projekttext formuliert, ergeben Formen und Farben einen ambivalenten Eindruck im Raum. Sie wirken je nach Standpunkt und Blickwinkel, „einengend wie ein Gitter“, andererseits wie Öffnungen und Fenster.[12] Ihre Gestalt bricht den Raum auf – nicht nur weil sie über eine Ecke mehr verfügt als die enge Zelle, sondern weil die sich überlagernden, konsequent über die Ecken des Raums geführten Lineaturen einen zweiten Raum bilden, der sich der Wahrnehmung vor und zugleich jenseits der Zellenwände eröffnet. Wenn ich mich in die Menschen zu versetzen versuche, die dieser Arbeit begegnet sind, so spüre ich bedrückende Enge und Irritation angesichts der großflächigen starkfarbigen Formen. Es ist unmöglich, sich in dieser Zelle so zu positionieren, dass die Komposition „ganz“ in den Blick kommt. So fühle ich mich in meiner Wahrnehmung massiv behindert und werde zu einem „ästhetischen Gefangenen“, der in der Reflexion seiner Wahrnehmung und deren schmerzhafter Behinderung die Situation „Zur Zeit am Ort“ unmittelbar physisch erfährt.
Die Wirkung elementarer sinnlicher Eindrücke wurde im Folgenden von Heenes immer stärker in den Mittelpunkt seiner Arbeiten gerückt. Dabei ging es zusehends klarer und konkreter um die elementaren Effekte der Überlagerung, Interferenz und Durchdringung von Farben und Formen. In seinen raumbezogenen Arbeiten widmete er sich nun eingehend den Möglichkeiten der Belichtung, der immateriellen Farbgestaltung von Räumen. Für den Neubau eines Gymnasiums in Markt Indersdorf erarbeitete er 2001 ein künstlerisches Gestaltungskonzept, das die Installation von farbigen Leuchtkörpern in einer überdachten Freifläche über einem Wasserbecken vorsah (WVZ Nr. 2001/032): 16 unterschiedlich große Leuchtkörper mit farbigen Acrylglasscheiben sollten in lebendiger Verteilung in gestaffelten Höhen von der Decke abgehängt werden und in einem komplexen Rhythmus zeitversetzt ganz langsam erstrahlen und wieder verlöschen. So waren alle Voraussetzungen für einen sich permanent wandelnden Lichtraum gegeben, und besonders bei Dunkelheit hätten sich zweifellos mannigfaltigste Wechselwirkungen zwischen der Lokalfarbe der einzelnen Leuchtkörper und der Mischfarbe des Umraums ergeben, welche durch die Reflexionen der Wasseroberfläche noch potenziert worden wären. Die Menschen in diesem Lichtraum hätten nicht nur sich gegenseitig als farbig beleuchtet gesehen, sondern aktiv durch ihre Körper in die Mischung eingegriffen, bestimmte Farben verdeckt und damit andere verstärkt – sie wären also im Wahrnehmungsprozess als volle Wesen in lebendiger Präsenz anwesend gewesen.
2004 entwickelte Heenes ein Konzept für die künstlerische Gestaltung des Berufsbildungszentrum Simon-Knoll-Platz in München (WVZ Nr. 2004/011). Die Baumaßnahme bestand aus einem Neubau und dessen Anschluss an das bestehende, im Zuge dieser Maßnahme renovierte Gebäude über einen komplett verglasten, korridorartigen Brückenbau. Heenes’ Entwurf zielte auf Gliederung und Belebung durch Farbe, wobei er sowohl Wandbemalungen als auch farbige Gläser verwenden wollte. Erstere – große, in einem strengen, an den Proportionen der Gebäudefassade orientierten Modulsystem geteilte Farbflächen – sollten die Flure und das Treppenhaus des bestehenden fünfstöckigen Baus in Farbräume verwandeln, deren Töne zugleich orientierend gewirkt und Verbindungen zwischen einzelnen Gebäudeteilen hergestellt hätten (WVZ Nr. 2004/011A-C). Die farbigen Glasfronten sollten im neuen Brückenbau installiert werden. Auch hier arbeitete Heenes mit den Maßen der Architektur und dimensionierte die einzelnen verschieden breiten Paneele nach einem Modulsystem. Wie Schiebetüren sollten sie in Führungsschienen verankert werden – alle in ihrer Position fixiert, bis auf ein grünes Element in der mittleren der drei Etagen des Baus, das, durch einen Motor angetrieben, zu festgelegten Zeiten hinter einer hellblauen Fläche mehrere Meter in beiden Richtungen hin und her fahren sollte.
In diesem Entwurf wandte Heenes räumliche Gestaltungsmuster auf Kunst am Bau an, die er an der Wand – in Bildern und Objekten – bereits seit mehreren Jahren umsetzte. 1999 hatte er begonnen, Fünfeckkompositionen räumlich zu staffeln, indem er Papierarbeiten mit vollflächigen Ausführungen in Rahmen setzte, deren Gläser er auf der Innenseite mit linearen Konstruktionen bemalte (ab WVZ Nr. 1999/050). Damit brachte er die Begegnung von Fläche und Linie, die er zuvor auf ein und derselben Ebene entworfen hatte, in ein räumliches Bezugssystem und bezog zugleich die Spiegelwirkung des Glases als zentrales Gestaltungselement mit ein. Was vorher malerische Verschmelzungen in einer Ebene waren, wurde nun zu offenen Diskursen zwischen Formen und Farben, Flächen und Linien, in die ich als Betrachter aktiv eintrete. Ich spiegle mich und erscheine in der Reflexion inmitten meines Umraums bezeichnet und gefärbt. Zugleich ergeben sich durch die Distanz zwischen Glas und Papier in meinem dreidimensionalen Sehen feine Verschiebungen in der zweischichtigen Komposition – meine Bewegungen verändern nicht nur meine Position im Raum, sondern synchron dazu die Erscheinung des Werks. Das Bild lädt mich dazu ein, meine Position im Raum zu verändern. Diese Arbeiten stellen einerseits ein visuelles Pendant zu den seit Ende der 1980er Jahre entstandenen dreidimensionalen Objekten im Raum und an der Wand dar, die aus Fünfeckkörpern zusammengesetzt sind. Auch in ihnen treten die überaus feinfühlig differenzierte Farbigkeit und der sinnliche Genuss des gespachtelten Farbauftrags in einen lebendigen Dialog mit dem Raum. Andererseits gelang ihm mit den bemalten Gläsern auch für seine Malerei, welche sich nun zwischen minimal art, Konkretion und impressionistischer Nuancierung verortete, eine organische Synthese von Oberfläche und Reflexion.
Zur räumlichen Gliederung der Bildebenen kam 2003 die Verwendung von verschiebbaren farbigen Acrylglasscheiben innerhalb von Wandobjekten. Diese Arbeiten beenden die absolute Dominanz der Fünfeckform über viele Jahre: Nun wechselte Heenes vom ikonischen Spiel mit dem aus der Gestalt des Giebelhauses abgeleiteten Fünfeck zu einer freien Auseinandersetzung mit den Erfahrungsqualitäten von Oberfläche und Räumlichkeit in einfachen rechteckigen und quadratischen Formen. Oben und unten eingefasst von bemalten Flächen, sitzen in den neuen Wandobjekten die Scheiben in Führungsschienen vor einem Fond, der in manchen Arbeiten neutral grau, in anderen farbig bemalt ist, in wieder anderen einen Spiegel trägt. Häufig teilen sich zwei Scheiben eine Schiene, sodass im Verschieben immer auch etwas geöffnet wird. Im geschlossenen Zustand sind die Gläser tief dunkel. Bewege ich sie nach außen, vor die Wand, an der das Objekt hängt, so treten die Farben schrittweise aus dem Mischton und beginnen zu leuchten. Es ergeben sich, je nach Stellung und Überschneidung der Scheiben, vertikale Streifen, in denen ich verschiedene Abstufungen und Interferenzen wahrnehme. Oberhalb und unterhalb dieser beweglichen Zone stehen Farbpaneele, für die Heenes zum Teil bedruckte Stoffe, Streifen- und Blumenmuster, als Malgrund verwendet hat. Der Farbauftrag ist so dünn gehalten, dass deren Strukturen noch sichtbar bleiben. Auch in den malerischen Bereichen arbeitete er also mit dem Effekt des Durchscheinens, der Diaphanie, die im Arrangement der farbigen Gläser immer auch Reflexion ist, denn ich spiegle mich in den Scheiben, auch wenn kein richt iger Spiegel im Hintergrund sitzt. Eine elementare Erfahrung, die ich in der Begegnung mit diesen Arbeiten mache, besteht darin, dass Farbe ein räumliches Phänomen ist und dass ihre Wahrnehmung ist nicht nur von meinem Standpunkt sondern von meiner aktiven Gestaltung abhängt.
Heenes suchte in dieser Zeit nach Raumerfahrung in ihren verschiedenen sinnlich-ästhetischen Dimensionen neben dem Visuellen und jenseits von ihm. Paradigmatisch für seinen spielerisch-forschenden Ansatz ist das Konzept für die drei Kindertagesstätten im Norden von München aus dem Jahr 2003 (WVZ Nr. 2003/013). Dieses Kunst am Bau-Projekt erforderte, wie in allen Einrichtungen aus dem sozialpädagogischen Bereich, ein gesteigertes Maß von Sensibilität für die Bedürfnisse und Interessen der Menschen vor Ort. Heenes’ hohe ästhetische Beweglichkeit, sein künstlerisches Denken in Prozessen, kam dem sehr entgegen. Er entwarf drei kleine Gebäude im Außenraum, ein „Planetenhaus“, ein „Spielehaus“ und ein „Musikhaus“, in denen er auf drei völlig verschiedenen Wegen zu einer Symbiose von Form und Funktion gelangte[13]. Was in gestalterischen Konzepten Anderer leicht zur oberflächlichen Aufhübschung von Spielanlagen und Klettergerüsten geraten könnte, ist in diesem Entwurf authentisches Ergebnis einer zutiefst erfahrungsorientierten Herangehensweise an den Raum – egal, ob dies nun der konzentrierende Galerieraum oder der heterotopische öffentliche Raum ist.
Heenes dachte vom Menschen als aktivem Erfahrungswesen aus und fasste Ästhetik als Prozess auf, der Wahrnehmen und Handeln in permanenter Interaktion umfasste. So ist in den drei Häusern die selbstverständliche Verschmelzung von vielfältigen sinnlichen Reizen und maximaler „Benutzbarkeit“ von Grund auf angelegt. Friedrich Schillers Definition des Spiels in seiner Theorie der „Ästhetischen Erziehung des Menschen“ ist hier greifbar umgesetzt: Im Spiel gelingt die Symbiose von „sinnlichem Trieb“ und „Formtrieb“, die Interaktion von Wahrnehmen und Handeln, wie nirgendwo sonst in der Existenz der Menschen, und nirgendwo sonst kommen diese der Vollendung ihres Wesens so nahe wie hier. Was in „Schach dem Rathaus“ für die Langener Platzsituation 1998 bereits als Thema, als visuelle Metapher, aufgetaucht ist, wird in seinen späten Arbeiten – und dazu gehören auch die Wandobjekte mit ihren frei verschiebbaren Komponenten – zum gestalterischen Prinzip.
Wie sehr Heenes dieses Konzept des Spiels in seinen letzten raumbezogenen Arbeiten verinnerlicht hatte, zeigt auch der Entwurf des „Reflektoriums – einer Versuchsstation“ im Rahmen eines Wettbewerbs der Stadt Neu Isenburg für die Gestaltung der Insel im See eines Parks (WVZ Nr. 2004/009). Er entwarf für diesen verwunschenen Ort ein kleines, komplett verspiegeltes Häuschen, das auf einer Plattform ruhen und sich über eine zierliche Freitreppe in den See öffnen sollte. Dieses Miniaturgebäude war zur konkreten Nutzung den Vögeln zugedacht, deren Leben von der Balz bis zur Aufzucht des Nachwuchses, aber auch in den täglichen Routinen von Fressen und Schlafen als Performance erfahrbar geworden wäre. Das „Reflektorium“ sollte „Rasthaus Gasthaus Nisthaus Bühne Heimathaus Schutz+Rückzugsraum“[14] sein und den Menschen im Park als „Versuchsstation“ zur Verfügung stehen. Über einen Schaukasten am gegenüberliegenden Ufer informiert, hätten interessierte Laien zu „Forschern“ werden und an dem mannigfach gespiegelten tierischen Treiben aktiv Anteil nehmen können – in welchem Maß sie sich dabei selbst in ihrer artifiziellen Situation als Parkbesucher im großen Nistkasten der Stadt reflektieren wollten, wäre in ihrer freien Entscheidung gelegen[15]. Das Modell mit seiner liebevollen Detailgestaltung des Häuschens und der rot belegten Freitreppe ebenso wie der feinsinnig formulierte Projekttext, dem es an (Selbst-)Ironie nicht mangelt, verraten Heenes’ Lust am Spiel mit der Ästhetik des Stadtparks und seiner diversen Populationen, aber auch mit seinen zentralen Werkthemen der Reflexion und des Raums in seiner paradigmatischen Form des Hauses, welches hier zur Bühne einer kleinen Tierschau wird.
In Maastricht hatte Jockel Heenes sich in einen beängstigend leeren Raum begeben, um von dort aus die Welt und sich selbst in ihr zu erfahren – eine Welt, die dunkel war, von Umweltverschmutzung und atomarer Strahlung bedroht, und die es, wie in den Arbeiten des „Reserviert“-Zyklus geschehen, für die Menschen zurückzuerobern galt. Nachdem dies geleistet war, trat für ihn in der Erforschung der individuellen Existenz an die Stelle des elementar vitalen Aspekts eine eher strukturelle Perspektive: Räumliche und visuelle Muster – Architektur und Zeichensysteme – wurden auf ihre Erfahrungsqualität hin untersucht, wobei mit den „Simulationen“ die Virtualität der Raumerfahrung und damit das Gestaltungspotenzial in Bezug auf den individuellen Raum in den Vordergrund rückte. In der letzten Phase von Jockel Heenes’ Leben und Werk wurde wieder eine sehr elementare Dimension der Erfahrung des Lebensraums relevant, und die Hybridität der früheren Arbeiten macht verschiedenen Formen einer organischen Synthese Platz: Nun arbeitete Heenes vorrangig mit Farbe und Licht als veränderlichen, aktiv von den Menschen in der Situation gestaltbaren ästhetischen Reizen, die grundsätzlich transformatorische Kraft besitzen. Farbe und Licht verwandeln Räume und die Menschen in ihnen und schaffen Bewusstsein für die Existenz „Zur Zeit Am Ort“. Die stilistische Vielfalt mit der Heenes gerade in seinen Kunst am Bau-Projekten die Gestaltung und Transformation von Räumen plante, offenbaren eine hohe spielerische Freiheit. Aus dem Überlebensraum ist in den drei Jahrzehnten von Jockel Heenes künstlerischem Schaffen ein Spielraum geworden. An der absoluten Orientierung auf den Menschen und seine vielfältigen Erfahrungspotenziale hat sich dabei nichts geändert.
Jockel Heenes im Gespräch mit Eike Barmeyer, in: Jockel Heenes, „Fragmente. Zeichen. Zeit. 6. September 1977 – 23. Juni 1978“, Aachen 1979, o.S.
ibid.
Antragstext an den Deutschen Akademischen Austauschdienst für eine zusätzliche Unterstützung des Buchprojekts (1978).
In dem als Online-Datenbank veröffentlichten Werkverzeichnis von Jockel Heenes ist diese Arbeit als Nummer 1977/028 gelistet. Im Folgenden verweise ich bei der Erwähnung von Werken unter dem Kürzel „WVZ“ sowie einer siebenstelligen Werknummer jeweils auf diese Datenbank.
ibid.
1981 verwendet Heenes erstmals einen Spiegel in einer skulpturalen Arbeit, der Stele II, WVZ Nr. 1981/003.
Aus einem Gespräch zwischen Jockel Heenes und Helmut Friedel, in: Jockel Heenes, „Der Spiegel ist in mir“ Künstlerbuch, Städtische Galerie Erlangen, 1986, o.S.
ibid.
Der Projekttext steht unter WVZ 1987/048 zum Download bereit.
WVZ Nr. 1998/001C, E, H, K geben konkrete Entwürfe wieder, WVZ Nr. 1998/001O, P, Q, R entwickeln freie Konzepte der skulpturalen Intervention.
Modelle Dame und Pferd, F. Gerstner
Der Projekttext steht unter WVZ Nr. 2000/048 zum Download bereit.
Sehr detaillierter Projekttext mit genauer Beschreibung der Funktionen der drei Häuser steht bei WVZ Nr. 2003/13 zum Download bereit.
Projekttext, bei WVZ Nr. 2004/009